Was ist Antiziganismus?
Antiziganismus ist eine diskriminierende Einstellung gegen eine Gruppe, die man als „Zigeuner“ wahrnimmt. „Zigeuner“ an sich gibt es nicht. Es ist eine beleidigende Fremdbezeichnung für eine durch die Mehrheitsgesellschaft ausgedachte Gruppe. Der Begriff kommt vermutlich aus dem 9. Jahrhundert von dem altgriechischen Wort Athinganoi, das so viel wie „Unberührbare“ bedeutet. Antiziganismus baut auf „Zigeunerbildern“ auf, das sind jahrhundertealte Bilder, in denen unveränderliche Eigenschaften zugeschrieben werden. Diese Bilder sind historisch gewachsen und haben sich in ihrem Kern nicht geändert. Um sie zu verstehen, ist ein Blick in die Geschichte hilfreich.
Antiziganismus hat eine rassistisch diskriminierende Seite, wenn Sinti und Roma im Allgemeinen als „Zigeuner“ wahrgenommen oder bezeichnet werden. Sinti und Roma werden hierbei feste Eigenschaften zugeschrieben, die diese angeblich nicht ändern können. So werden Sinti und Roma immer wieder pauschal als „Fremde“ oder „MigrantInnen“ bezeichnet und wahrgenommen, auch wenn viele Angehörige der Minderheit bereits seit über 600 Jahren im deutschsprachigen Raum leben.
Antiziganismus hat aber auch eine sozial diskriminierende (klassistische) Seite, wenn Menschen mit alternativen Lebensentwürfen oder unter harten Lebensbedingungen, wie beispielsweise Obdachlose, WohnwagenplatzbewohnerInnen, Zirkusbetreibende, Bettelnde, Schaustellende oder Menschen, die in Armut leben, als „Zigeuner“ bezeichnet und diskriminiert werden.
Antiziganismus kann sich in allen Bereichen des Lebens zeigen. In Alltagssituationen, privatem oder auch in staatlichem Handeln.
Was hat Antiziganismus mit Sinti und Roma zu tun?
Die Entstehung von Antiziganismus hat nichts mit Sinti und Roma und ihrem Handeln zu tun. Antiziganismus entsteht in der Mehrheitsgesellschaft und in den Köpfen der Diskriminierenden. Eigene Ängste und Unsicherheiten werden dabei auf sogenannte „Zigeuner“ übertragen und ‘projiziert’. Diese scheinen dann als das, was man selbst nicht sein darf oder was man selbst eigentlich gerne sein möchte und sich verbietet. Auf diese Weise kann es zu einer „Selbstverfolgung im Anderen“ kommen, bis hin zu Gewalttätigkeit und Mord.
Sinti und Roma werden seit Jahrhunderten wegen des gesellschaftlichen Antiziganismus verfolgt und ausgegrenzt. Über Jahrhunderte durften Sinti und Roma nicht in Städten bleiben und wurden immer wieder vertrieben. Manche versuchten unerkannt zu bleiben, um der Verfolgung und Vertreibung zu entgehen. Die Folge des Antiziganismus war, dass ein großer Teil der Sinti und Roma über Jahrhunderte vom öffentlichen Leben ausgeschlossen war.
Zusätzlich wurden im Nationalsozialismus Sinti und Roma rassistisch verfolgt und vernichtet. Es gibt keine Familie der deutschen Sinti und Roma, die nicht vom Völkermord betroffen war und Angehörige verloren hat.
Antiziganismus hat somit nichts mit dem Verhalten von Sinti und Roma zu tun, aber er hat dramatische Auswirkungen auf das Leben von Sinti und Roma.
Was sind gängige Vorurteile und Bilder im Antiziganismus?
Im Antiziganismus sind die gängigen Vorurteile „nicht arbeiten“, „nicht sesshaft sein“, „Fremdheit“, „Faulheit“, „Freiheit“, „Musikalität“, „Naturverbundenheit“, „Kriminalität“ und „Heimatlosigkeit“. Diese sind Gegenbilder zu erwünschtem Verhalten von ‘guten Bürgern’ wie „fleißig“, „Steuern zahlend“ und so weiter und dienen damit der Gesellschaft auch als Abschreckung. Über Jahrhunderte wurden Menschen als „Zigeuner“ verfolgt und ermordet. Eine Besonderheit dieser Bilder ist, dass sie sehr wandelbar sind.
Ein Beispiel: Weiblichkeit unter der antiziganistischen Brille
Frauen, die Angehörige der Minderheit sind, wird im Antiziganismus allgemein das Gegenteil davon unterstellt, was gesellschaftlich als „gute (Haus-)Frau“ gilt. Hier werden immer wieder drei Bilder wiederholt. Diese sind oberflächlich sehr unterschiedlich, aber ihnen liegen die gleichen zugeschriebenen Eigenschaften zugrunde. Betont werden muss, dass es sich hierbei um Vorstellungen und diskriminierende Vorurteile, die immer wieder wiederholt wurden, und nicht um Realitäten handelt.
Die junge, schöne „Zigeunerin“ — Das bekannteste Beispiel ist hierfür Carmen oder Esmeralda. Sie ist schön, ‘leidenschaftlich’ und verführt tanzend die Männer. Sie ist frei von Zwängen und genau das ist es, was eine ‘gefährliche Anziehung’ auf Männer ausübt.
Die mittelalte, rauchende „Zigeunerin“ — Auf vielen alten Holzstichen sind rauchende „Zigeunerinnen“ zu sehen. Rauchen war etwas, das damals allein Männern vorbehalten war. Sie sind selbstbewusst und sorgen für den Lebensunterhalt der Familie – vermeintlich über Betteln oder indem sie gemeinsam mit ihren Kindern stehlen.
Die alte „Zigeunerin“ — Das letzte gängige Bild ist die alte „Hexe“. Sie ist hässlich, mystisch und betrügt die unschuldige Bevölkerung durch Wahrsagerei und Hexerei.
Die drei Bilder scheinen auf den ersten Blick wenig gemeinsam zu haben. Aber in allen finden sich folgende Eigenschaften versteckt:
a) Gegenteil einer ‘guten Frau’ (‘Verführerin’ — arbeitende, ‘männliche’ Mutter — hässliche ‘Hexe’)
b) Naturverbundenheit (Leidenschaftlichkeit — Mystik)
c) Freiheit (Tanzen – Rauchen – Mystik)
d) Leben auf Kosten und zum Schaden der Mehrheitsbevölkerung (Verführung der Männer – Klauen & Betteln – Wahrsagerei)
Insbesondere das erste Bild, der Carmen oder Esmeralda, zeigt aber auch, dass ein und das selbe Bild sich in ‘Wunsch’ und ‘Abschreckung’ zeigen kann. Einerseits bekommt sie viel Sympathie und wird positiv gezeichnet, aber gleichzeitig bringt sie das Verderben für die Personen, die sich mit ihr einlassen. Weiter erscheint die ‘Alte Hexe’ als abschreckendes Bild ihrer unweigerlichen Zukunft. Je nach Blickwinkel kippt das Bild der Carmen oder Esmeralda ins Romantische oder ins Dämonische.