Die ersten Wiesbadener Kulturwochen gegen Antiziganismus

Update: Der Lan­desver­band hat eine Doku­men­ta­tions­broschüre zu den Kul­tur­wochen erstellt.

Vom 29. Mai bis zum 20. Juli 2018 hat der Lan­desver­band Deutsch­er Sin­ti und Roma Hes­sen zusam­men mit städtis­chen und zivilge­sellschaftlichen Koop­er­a­tionspart­ner­In­nen in Wies­baden die ersten Wies­baden­er Kul­tur­wochen gegen Antizigan­is­mus ver­anstal­tet. Zu den Hin­ter­grün­den der Diskri­m­inierung von Sin­ti und Roma führte der Wies­baden­er Kuri­er ein Inter­view mit Rinal­do Strauß vom Lan­desver­band.

Die Ver­anstal­tun­gen ermöglicht­en ver­schiedene Blick­winkel auf die gemein­same Geschichte der Min­der­heit und der Mehrheits­ge­sellschaft. Die im Stadt­mu­se­um am Markt (sam) aufge­baute mobile Ausstel­lung des Lan­desver­ban­des „Der Weg der Sin­ti und Roma“ behan­delt die Entste­hung und Entwick­lung der „Zige­uner­bilder“, durch die Ange­hörige der Min­der­heit jahrhun­derte­lang aus­ge­gren­zt und diskri­m­iniert wur­den, bis hin zum Völk­er­mord während des Nation­al­sozial­is­mus und der ver­sagten Entschädi­gung in der Nachkriegszeit.

Neben den Ver­anstal­tun­gen des Lan­desver­ban­des (siehe unten) war ein Teil des kul­turellen Beitrags der deutschen Sin­ti und Roma durch die vom sam organ­isierte Musikvorstel­lung des Romeo Franz Ensem­bles auf dem Wies­baden­er Markt erfahrbar. Im Rah­men­pro­gramm des Stadt­mu­se­ums wurde auch der Fernse­hfilm „Bis zum Ende der Welt“ in Wies­baden gezeigt, der die Aktu­al­ität von Vorurteilen gegenüber Roma zum The­ma hat.

Zum Abschluss und Höhep­unkt der Kul­tur­wochen kon­nte erst­mals das „Requiem für Auschwitz“ durch die europäis­chen Roma und Sin­ti Phil­har­moniker um den Diri­gen­ten und kün­st­lerischen Leit­er Ric­car­do M Sahi­ti in der Lan­deshaupt­stadt aufge­führt wer­den. Über das Konz­ert im Großen Haus des Hes­sis­chen Staat­sthe­aters Wies­baden am 19. Juni hat der Wies­baden­er Kuri­er berichtet.

In den bre­it gefächerten Ver­anstal­tun­gen kon­nten viele ver­schiedene AkteurIn­nen ein­be­zo­gen und ange­sprochen wer­den. Schü­lerIn­nen, Stadt­ge­sellschaft, Wis­senschaft­lerIn­nen und Studieren­den bot sich die Möglichkeit zu Per­spek­tive­naus­tausch und Ver­net­zung.

Zu den Ver­anstal­tun­gen des Lan­desver­ban­des:

Bere­its am Vor­mit­tag vor der Eröff­nung der Kul­tur­wochen am 29. Mai fand ein Work­shop mit zwölf Schü­lerIn­nen von zwei Wies­baden­er Schulen statt. Der Kura­tor und Autor der Ausstel­lung Dr. Udo Eng­bring-Romang führte in das The­ma Antizigan­is­mus und die in der Ausstel­lung behan­del­ten Inhalte ein. Somit wur­den die Teil­nehmenden dazu befähigt, selb­st­ständig ihre Mitschü­lerIn­nen durch die Ausstel­lung des Lan­desver­ban­des „Der Weg der Sin­ti und Roma“ zu führen.

Am sel­ben Abend wur­den im sam die Kul­tur­wochen feier­lich eröffnet. Das Wies­baden­er Tag­blatt berichtete. Neben der Direk­torin des Stadt­mu­se­ums Sabine Phillip sprachen Wies­badens Ober­bürg­er­meis­ter Sven Gerich und Rinal­do Strauß vom Lan­desver­band ein Gruß­wort.  In seinem Gruß­wort erin­nerte dieser an die Ver­fol­gung und Ver­nich­tung deutsch­er Sin­ti und Roma  zu Zeit­en des Nation­al­sozial­is­mus. Die erst 1982 erfol­gte Anerken­nung des Völk­er­mords sei für viele Ange­hörige der Min­der­heit viel zu spät gekom­men. „Noch immer sind Ange­hörige unser­er Min­der­heit mas­siv­en Aus­gren­zun­gen und Diskri­m­inierun­gen aus­ge­set­zt – auch hier in Deutsch­land. Die jahrhun­derteal­ten Vorurteilsstruk­turen, die wir ‘Antizigan­is­mus’ oder ‘Zige­uner­bilder’ nen­nen, haben sich über Jahrhun­derte wie ein kul­tureller Code fest­ge­set­zt“, erk­lärte Rinal­do Strauß in seinem Gruß­wort.

Anschließend bot sich die Gele­gen­heit mit dem Autor der Ausstel­lung Dr. Udo Eng­bring-Romang durch die Ausstel­lung zu gehen. Musikalisch begleit­et wurde die Eröff­nung vom Chris­tiano Gitano Trio.

Am 5. Juni zeigte der Lan­desver­band im Mur­nau-Filmthe­ater seinen Film „Kampf um Anerken­nung“.

Der Film doku­men­tiert die poli­tis­che Organ­isierung und Bürg­er­recht­sar­beit der deutschen Sin­ti und Roma seit 1979. Im Gespräch mit dama­li­gen Akteurin­nen und Akteuren greift die Film­doku­men­ta­tion wichtige Meilen­steine der Bürg­er­recht­sar­beit in Hes­sen aus vier Jahrzehn­ten auf. Dazu gehören ins­beson­dere die Gedenkver­anstal­tung in der Frank­furter Paulskirche und die Errich­tung des Mah­n­mals für die deportierten Sin­ti und Roma in Wies­baden Anfang der 90er Jahre.

Im Anschluss an den Film fand ein Pub­likums­ge­spräch mit Adam Strauß (Vor­sitzen­der des Lan­desver­ban­des), Achim Exn­er (Wies­baden­er Ober­bürg­er­meis­ter a.D.), Mar­garethe Gold­mann (frühere Kul­tur­dez­er­nentin Wies­badens) und dem Stadthis­torik­er Dr. Axel Ulrich statt, in dem die Entste­hungs­geschichte des Wies­baden­er Mah­n­mals für die deportierten Sin­ti in der Bahn­hof­sstraße reka­pit­uliert wurde. Das Mah­n­mal war eines der ersten Gedenkstät­ten über­haupt, das den Sin­ti und Roma als Opfer des Völk­er­mordes gewid­met wurde. Das Gespräch mod­erierte der wis­senschaftliche Mitar­beit­er des Lan­desver­ban­des Malte Clausen, der auch an dem Film mit­gewirkt hat­te.

Am Fach­tag „Antizigan­is­mus in der Sozialen Arbeit“ am 8. Juni waren Wis­senschaft­lerIn­nen, Studierende und Prak­tik­erIn­nen der Sozialen Arbeit beteiligt, eben­so wie Bürg­er­rechtler aus der Min­der­heit.

Der Fach­tag Antizigan­is­mus ermöglichte einen Aus­tausch über aktuelle Her­aus­forderun­gen der Sozialen Arbeit im Bezug auf antizigan­is­tis­che Diskri­m­inierungsmuster. Diese sind jedoch nicht zu tren­nen von der Ver­fol­gungs­geschichte und den bis heute aktiv­en Vorurteilsstruk­turen. Die Bedeu­tung von „geschichts­be­wusster Auseinan­der­set­zung“ hob auch Prof. Astrid Messer­schmidt (Ber­gis­che Uni­ver­sität Wup­per­tal) in ihrem Beitrag beson­ders her­vor und zeigte, dass der Arbeits­be­griff und das Arbeit­side­al, in dessen Gegen­satz der „Zige­uner“ immer wieder kon­stru­iert wird, weit in die Geschichte zurück geht, aber Fol­gen bis in die Gegen­wart besitzt. Dr. Markus End (Vor­sitzen­der der Gesellschaft für Antizigan­is­mus­forschung) ging neben ein­er Ein­führung in die Sinnstruk­tur des Antizigan­is­mus genauer auf die Rolle der Sozialen Arbeit und deren Ver­ant­wor­tung ein. Hier­bei betonte er die Notwendigkeit für Sozialar­bei­t­erIn­nen, ihre eigene Rolle und ihre eige­nen Vorurteile zu reflek­tieren, auch vor dem Hin­ter­grund der Geschichte der Sozialen Arbeit. In seinem Vor­trag zur Bil­dungssi­t­u­a­tion von Sin­ti und Roma in Deutsch­land zeigte Romeo Franz (Geschäfts­führer der Hilde­gard-Lagrenne-Stiftung und zukün­ftig Europa-Abge­ord­neter der Grü­nen) ein­drucksvoll die Weit­er­gabe von Bil­dungsauss­chlüssen und Bil­dungs­be­nachteili­gun­gen zwis­chen den Gen­er­a­tio­nen und betonte: „Nur wenn man den Bil­dungs­gap über­winden kann, lässt sich eine gle­ich­berechtigte Teil­habe in der Gesellschaft erre­ichen“.

In anschließen­den Work­shops wur­den die The­men weit­er ver­tieft und disku­tiert. Ein Ergeb­nis der abschließen­den Podi­ums­diskus­sion von Studieren­den und Prax­isvertreterIn­nen war, dass das The­ma Antizigan­is­mus in das Studi­um der Sozialen Arbeit aufgenom­men wer­den sollte. Dieser Forderung schließt sich der Lan­desver­band aus­drück­lich an.

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