Die Aufklärung und der moderne Nationalstaat

Aufklärung: Anspruch und Widerspruch

Das Zeital­ter der Aufk­lärung hat­te sich auf die Fah­nen geschrieben, mit Wis­senschaft und Philoso­phie gegen den Aber­glauben vorzuge­hen und die Welt erk­lär­bar zu machen. Dies hat­te die Folge, dass die Ideen der Men­schen­rechte, Demokratie und Gle­ich­berech­ti­gung aufka­men und stark wur­den.

Ent­ge­gen der häu­fi­gen Erwartung führte dies nicht zu ein­er generellen Aufhe­bung von Diskri­m­inierun­gen gegenüber Min­der­heit­en, wie dem Anti­semitismus oder Antizigan­is­mus. Aber die Begrün­dun­gen für die gesellschaftliche Aus­gren­zung von Men­schen verän­derten und „ver­wis­senschaftlicht­en“ sich.

Das Ziel der Aufk­lärung, alles erk­lär­bar und kat­e­gorisier­bar zu machen, hat­te auch eine Kehr­seite. So wur­den durch die Blick­rich­tung und Erwartung­shal­tung, durch die Fra­gen, die gestellt und die Fra­gen, die nicht gestellt wur­den, häu­fig lediglich die vorher bere­its bestande­nen Vorurteile wieder­holt, bestätigt und ver­meintlich wis­senschaftlich begrün­det.

Der mit­te­lal­ter­liche, zuvor religiös begrün­dete, Anti­ju­dais­mus wan­delte sich in einen mod­er­nen „wis­senschaftlich“ begrün­de­ten Anti­semitismus und auch im Antizigan­is­mus macht­en sich Wis­senschaft­lerIn­nen daran, das „Wesen“ der „Zige­uner“ zu erforschen. Die alte Vorurteile zeigten sich in neuem „aufgek­lärten“ Gewand.

Heinrich Moritz Gottfried Grellmann

Ein bekan­ntes Beispiel ist hier­für Hein­rich Moritz Got­tfried Grell­mann. Er war der erste soge­nan­nte „Zige­uner­forsch­er“. Für Grell­mann waren Juden, Sin­ti und Roma der „deutschen Bevölkerung“ gegenüber unter­en­twick­elt. Durch Erziehung soll­ten sie in dieser Vorstel­lung Teil der Gesellschaft wer­den kön­nen, aber nur wenn sie sich von allem los­sagten, was mit ihrer Fam­i­lie und ihrem vorheri­gen Leben zu tun hat­te. Mit Bil­dung, Arbeit und Erziehung der ange­blichen Unwis­senheit zu entkom­men entsprach dem aufk­lärerischen Ide­al. Die Zuteilung von stereo­typen Eigen­schaften war von vorne­here­in vorgegeben: Sin­ti und Roma – unwis­send und unter­en­twick­elt; Mehrheits­bevölkerung – aufgek­lärt und fortschrit­tlich.

Alte „Zige­uner­bilder“ wur­den in die The­o­rien mitaufgenom­men und neu angepasst. So ist für Grell­mann die ver­meintliche „Faul­heit“ und der „Müßig­gang“ der „Zige­uner“ der Grund für ihre aus­ge­gren­zte und oft von Armut geze­ich­nete Sit­u­a­tion – nicht etwa die jahrhun­derte­lange Aus­gren­zung und Vertrei­bung. Durch die Erziehung zu har­ter Arbeit sollte es ihnen möglich sein ihr „Zige­uner­sein“ abzule­gen. Gle­ichzeit­ig bedeutete Arbeit aber auch, sich seinen Platz in der Gesellschaft und vor Gott zu ver­di­enen. Es gab nach dieser diskri­m­inieren­den Auf­fas­sung somit nur zwei Möglichkeit­en: entwed­er man war kein Sin­to oder Rom mehr oder man hat­te kein Platz in der Gesellschaft.

So kon­nte die Mehrheits­ge­sellschaft sich einre­den, bess­er zu sein und auf „der richti­gen Seite“ zu ste­hen. Aber gle­ichzeit­ig kon­nte sich vorgestellt wer­den, dass man diesen „armen Teufeln“ hil­ft. Ungeachtet der Tat­sache, dass die Voran­nah­men dieser ver­meintlichen „Hil­fe“ falsch und ras­sis­tisch waren.

Zwangsassimilation: Versuch der gewaltsamen Anpassung

Diese The­o­rie wurde – beispiel­sweise von Kaiser Joseph II – in eine grausame Poli­tik über­set­zt: Kinder wur­den ihren Eltern weggenom­men, ihre Mut­ter­sprache – das Romanes – wurde ver­boten, Pferde erschossen und ihr bish­eriges Zuhause zer­stört. Gegen diese unter­drück­erische und gewalt­tätige Poli­tik regte sich Wider­stand und sie führte schließlich zum gegen­teili­gen Ergeb­nis: Sin­ti und Roma wur­den im Anschluss noch stärk­er aus­ge­gren­zt und der Zusam­men­halt inner­halb der Min­der­heit war durch die Ver­fol­gung gestiegen.

Für „Zige­uner­wis­senschaftler“ wie Grell­mann stellte dieses Ergeb­nis jedoch nicht die eigene Herange­hensweise und den diskri­m­inieren­den Blick in Frage.