Mittelalter und frühe Neuzeit

Antizigan­is­mus ist so alt wie die gemein­same Geschichte von Mehrheit und Min­der­heit. Seit über 600 Jahren sind Sin­ti und Roma im deutschsprachi­gen Raum zuhause. Das ist über 200 Jahre länger als das Gesetz der Schw­erkraft bekan­nt ist oder 450 Jahre vor der Exis­tenz des Deutschen Kaiser­re­ich­es.

Hintergrund: Spätes Mittelalter

Die Zeit der ersten Erwäh­nung von Sin­ti im deutschsprachi­gen Raum, 1407 in Hildesheim, war geprägt von starken gesellschaftlichen Verän­derun­gen. Auf der poli­tis­chen Ebene hat­ten Kaiser und Papst stark an Ein­fluss und Autorität ver­loren und wur­den zunehmend durch Ter­ri­to­ri­al­her­ren erset­zt. Das Osma­n­en­re­ich drängte nach Europa. Human­is­mus und Ref­or­ma­tion waren neue ide­ol­o­gis­che Strö­mungen. Diese ord­neten die Gesellschaft stärken nach Ter­ri­to­rien und nicht wie vorher nur nach Stän­den. Der Katholizis­mus wurde vom Protes­tantismus in sein­er alleini­gen Wel­terk­lärung her­aus­ge­fordert.

Damit ver­bun­den waren ver­meintliche Frei­heit­en: Es war nicht mehr for­mal durch Standes­gren­zen ver­boten, als Bauer gesellschaftlich aufzusteigen und ein Leben wie ein Adeliger zu führen, aber die wirtschaftlichen Zwänge ver­hin­derten dies weit­er. Den­noch gab es das neue Cre­do: Jed­er sei seines Glück­es Schmied und damit ange­blich für seine gesellschaftliche Sit­u­a­tion sel­ber ver­ant­wortlich. Aus dieser könne er sich nur durch harte Arbeit befreien.

Die Entwicklung des spätmittelalterlichen Antiziganismus

Sin­ti und Roma wur­den in dieser Sit­u­a­tion aus ver­schiede­nen Grün­den ein­er­seits als Bedro­hung wahrgenom­men, ander­er­seits wur­den Sie zum Aus­druck von Sehn­sücht­en und es entwick­el­ten sich Stereo­type, welche bis heute in immer wieder abge­wan­del­ter Form hal­ten. Zunächst bestand die Angst, dass die anfangs noch als Pil­ger willkom­men geheiße­nen Sin­ti „Hei­den“ oder „Spi­one“ für die Osma­n­en seien. In der religiös geprägten Welt des Mit­te­lal­ters war der Vor­wurf des Hei­den­tums ein­er, der die Per­so­n­en außer­halb jed­er Ord­nung posi­tion­ierte. Damit wurde entsch­ieden: diese Per­so­n­en soll­ten nicht zu Europa gehören.

Eine weit­ere Angst, die auf Sin­ti über­tra­gen wurde, ent­stand aus der sich neu ord­nen­den Arbeits­ge­sellschaft. Der Druck und die dadurch emp­fun­dene Last mit sein­er eige­nen Arbeit „seines eige­nen Glück­es Schmied“ sein zu müssen, wurde über­tra­gen auf die Vorstel­lung, dass andere davon aus­geschlossen seien. Dieser Neid und gle­ichzeit­ig auch der oft­mals uneinge­s­tandene Wun­sch nach einem arbeits- und verpflich­tungs­freien Leben wurde auf Sin­ti, aber auch auf Juden über­tra­gen, die sich ange­blich auf fremde Kosten bere­icherten. So schrieb der Chro­nist Sebas­t­ian Mün­ster bere­its 1544:

„ Man hat sehr wohl erfahren, dass dies elende (=heimat­lose) Volk im Umherziehen ent­standen ist, es hat kein Vater­land, zieht müßig im Land umher, ernährt sich mit Stehlen, lebt wie ein Hund, ist ohne Reli­gion, obwohl sie ihre Kinder unter den Chris­ten taufen lassen. Sie leben ohne Sor­gen, ziehen von einem Land ins andere“

Sebas­t­ian Mün­ster 1544

Romantisierung und Dämonisierung

Diese Zuschrei­bun­gen von „kein Vater­land“, „Stehlen“ (keine geregelte Arbeit) und „keine Reli­gion“ und der Zusatz „Sie leben ohne Sorge“ zeigen die Dop­peldeutigkeit der antizigan­is­tis­chen Stereo­type und damit auch ihre gesellschaftliche Funk­tion.

Diese kön­nen entwed­er in Wun­schvorstel­lun­gen von „Frei­heit“ und „Unge­bun­den­heit“ for­muliert wer­den, um sich aus den eige­nen gesellschaftlichen Zwän­gen her­auszuträu­men. Oder sie wirken als Dro­hbild des „Geset­zlosen“ und „gefährlichen Frem­den“ als Abschreck­ung und wer­den teil­weise auch als Abschreck­ung ver­fol­gt. Das dahin­ter liegende stereo­type Bild ist jedoch das gle­iche.

Folgen für Sinti und Roma: Vertreibung, Verfolgung und Ermordung

Bere­its 90 Jahre nach ihrer ersten Erwäh­nung in Hildesheim wur­den Sin­ti 1497 für ‘vogel­frei’ erk­lärt. Das bedeutet, dass eine Ermor­dung von Sin­ti und anderen als „Zige­unern“ beze­ich­neten Per­so­n­en ohne Strafe blieb. Vorher beste­hende Schutzbriefe wur­den aufge­hoben und Sin­ti und Roma auch aktiv ver­fol­gt und ver­trieben. Es wur­den Erlasse ver­ab­schiedet zur „Vertrei­bung aus den königlichen Lan­den“ von „Armen/Bettlern/Zigeunern“.

Das führte dazu, dass Sin­ti nir­gend­wo bleiben durften und immer weit­er ver­trieben oder abgeschoben wur­den. Strafe für das Betreten von Herrschafts­ge­bi­eten kon­nte das Brand­marken sein, bei wieder­holtem Betreten auch der Gal­gen.

Folgen für die Gesellschaft: Bekämpfung von Armen und Bedürftigen

„Zige­uner“ war ins­beson­dere vor der Aufk­lärung, aber auch heute noch kein Begriff, der syn­onym als Fremd­beze­ich­nung für Sin­ti und Roma ver­wen­det wurde. Er wurde als „sozialer Begriff“ ver­wen­det, das bedeutet er umfasste auch viele Per­so­n­en, welche auf­grund ihrer gesellschaftlichen Posi­tion in das Stereo­typ fie­len: wie beispiel­sweise Arme, Bet­tler, Land­stre­ich­er und viele weit­ere. Während im frühen Mit­te­lal­ter Armut als etwas edles galt, und Arme aus Näch­sten­liebe unter­stützt wur­den, wur­den diese im Späten Mit­te­lal­ter als Selb­stver­schuldet und Faul berachtet, bekämpft und teil­weise ver­fol­gt. Diese neue Bekämp­fung der Armen mit antizigan­is­tis­chen Dekreten und der antizigan­is­tis­chen Argu­men­ta­tion, dass sie „müßig­gän­gerisch auf den Kosten ander­er lebten“ diente auch der Erziehung der restlichen Bevölkerung. Das Bild des „Zige­uners“ diente als Abschreck­ung: „So wie die wollt/sollt ihr nicht sein!“