Gesellschaftliche Vorurteile haben tödliche Auswirkungen

Der Anschlag des 19. Februar in Hanau und seine gesellschaftlichen Bedingungen

PRESSEMITTEILUNG DES HESSISCHEN LANDESVERBANDES DEUTSCHER SINTI UND ROMA

Am 19. Febru­ar 2020 erschoss ein Täter neun Men­schen aus ras­sis­ti­schen Moti­ven und schließ­lich sei­ne Mut­ter und sich selbst. An die­sem Tag ver­lo­ren Gök­han Gül­te­kin, Sedat Gür­büz, Said Nesar Has­h­e­mi, Mer­ce­des Kier­pacz, Ham­za Kur­to­vić, Vili Vio­rel Păun, Fatih Sara­çoğlu, Fer­hat Unvar und Kaloy­an Vel­kov ihr Leben, weil sie nicht in sein Welt­bild passten.

Das ras­sis­ti­sche Welt­bild des Täters ist nicht allein erklär­bar mit einer Radi­ka­li­sie­rung in geschlos­se­nen digi­ta­len Grup­pen. Viel­mehr wur­den in den letz­ten Jah­ren anti­zi­ga­nis­ti­sche, ras­sis­ti­sche und anti­se­mi­ti­sche Posi­tio­nen immer salon­fä­hi­ger. Die Anschlags­or­te sind hier­bei ein Beispiel.

In den Mona­ten bevor der Täter eine Shi­sha-Bar und eine Sports­bar als Anschlags­or­te aus­such­te, wur­de bun­des­weit Stim­mung gemacht gegen Shi­sha-Bars und migran­tisch gepräg­te Orte als ver­meint­li­che Orte von Kri­mi­na­li­tät. In der Are­na-Bar war dar­über hin­aus der Not­aus­gang abge­schlos­sen. Über­le­ben­de berich­ten, dass dies bereits seit cir­ca einem Jahr der Fall und auch offi­zi­ell bekannt gewe­sen sei. Der 

Kri­mi­na­li­tät wird hier zu einer Eigen­schaft von Min­der­hei­ten gemacht. Kri­mi­nell, das sind in der Vor­stel­lung immer ‚die Ande­ren‘. Dabei ist egal, ob die­se bereits seit Jahr­hun­der­ten in Deutsch­land leben oder nicht.“, so Adam Strauß, Vor­sit­zen­der des Hes­si­schen Lan­des­ver­ban­des Deut­scher Sin­ti und Roma. „Clan-Kri­mi­na­li­tät, Bet­tel-Mafia und jüdi­sche Ver­schwö­rung sind kri­mi­na­li­sie­ren­de Bil­der von Min­der­hei­ten, die auch heu­te noch in der brei­ten Bevöl­ke­rung ver­an­kert sind und ver­hee­ren­de Aus­wir­kun­gen haben.“

Wie stark und wel­che Bil­der ver­brei­tet wer­den, hängt von der gesell­schaft­li­chen Situa­ti­on ab. Wäh­rend Coro­na sind ins­be­son­de­re Ver­schwö­rungs­theo­rien, die die Ver­ant­wor­tung für die Pan­de­mie einer ver­meint­lich eli­tä­ren Grup­pe geben, beson­ders ver­brei­tet und wer­den jede Woche auf der Stra­ße oder in Nach­rich­ten­diens­ten ver­brei­tet. Aber auch ande­re Bil­der blei­ben aktuell:

Ende letz­ten Jah­res, im Dezem­ber 2021, ver­öf­fent­lich­te der Hes­si­sche Rund­funk eine Fern­seh­re­por­ta­ge zu der Fra­ge ‚Gibt es eine Bet­tel­ma­fia?‘. Obwohl auch in die­ser betont wur­de, dass es kei­ne Sta­tis­ti­ken oder kon­kre­ten Hin­wei­se im Rah­men poli­zei­li­cher Ermitt­lun­gen dazu gibt, wur­de immer wie­der das Bild einer kri­mi­nel­len Grup­pe bedient, die bet­telt, obwohl sie nicht bedürf­tig ist und selbst­ver­ständ­lich nicht aus Deutsch­land, son­dern Ost­eu­ro­pa kommt.“, betont Adam Strauß. „Hier­bei wird das alte Bild bedient, dass unse­re Men­schen angeb­lich unehr­lich und auf Kos­ten der Gesell­schaft leben wür­den. Ein Bild, das schlim­me Fol­gen hat: so stimm­ten 2020 in der soge­nann­ten Leip­zi­ger Auto­ri­ta­ris­mus Stu­die 35% der Befrag­ten der Aus­sa­ge zu, dass Sin­ti und Roma aus Innen­städ­ten ver­bannt wer­den soll­ten und ver­ges­sen dabei, dass wir nor­ma­le Bür­ger die­ses Lan­des sind und in eben die­sen Innen­städ­ten woh­nen, arbei­ten und zur Schu­le gehen.“

Aber selbst im Umgang der Poli­zei nach dem Anschlag zeig­te sich der enor­me Ein­fluss die­ses Bil­des. So wur­den Über­le­ben­de und Hin­ter­blie­be­ne von der Poli­zei als poten­ti­el­le „Gefähr­der“ ange­spro­chen, dass sie sich nicht am Vater des Täters rächen soll­ten. „Das ist absurd und ein Skan­dal! Hier wur­de Men­schen, ohne Anlass Kri­mi­na­li­tät und Aggres­si­vi­tät zuge­schrie­ben, die wei­ter in direk­ter Nähe des Vaters woh­nen muss­ten und sich selbst bedroht fühl­ten.“, empört sich Strauß.

Dass ein Anschlag wie in Hanau sich in Zukunft nicht wie­der­holt, ist eine gesell­schaft­li­che Auf­ga­be. Sie bedeu­tet auch, dass wir sen­si­bler wer­den müs­sen für gesell­schaft­li­chen Ras­sis­mus, Anti­zi­ga­nis­mus und Anti­se­mi­tis­mus und uns ihm kon­se­quent entgegenstellen.“

Am 19. Febru­ar 2022 wird in vie­len deut­schen und hes­si­schen Städ­ten der Ermor­de­ten gedacht.

Ein gesell­schaft­li­ches Geden­ken ist wich­tig, damit wir die Men­schen dahin­ter nicht ver­ges­sen, eben­so wie die Auf­ga­be und Ver­ant­wor­tung, die sich der Gesell­schaft dadurch stellt.“, so Adam Strauß abschließend.